Am Freitag begeisterte der Orgel-Virtuose Cameron Carpenter im Baden-Badener Festspielhaus. Auf dem Programm: Johann Sebastian Bach und Howard Hanson.

Ein Paukenschlag gleich zu Beginn: Cameron Carpenter betritt die Bühne des Festspielhauses ganz in Schwarz, mit gepflegtem Kurzhaarschnitt. Kein Swarovski-Glitzer-Outfit mehr, keine Strass-bestückten Schühchen. Der einst exzentrische Orgel-Punk mit Irokesenschnitt, der allzu gern seine Kunst im ärmellosen Unterhemd zelebrierte, hat seine wilden Jahre hinter sich. „Ich bin es leid, der Bad Boy zu sein“, bekannte der 37-Jährige kürzlich gegenüber der Luzerner Zeitung.

Nichts an Extravaganz verloren hat hingegen sein meisterliches Spiel auf seiner „International Touring-Orgel“. Das nach seinen Vorgaben gebaute, tonnenschwere digitale Musikkraftwerk mit fünf Manualen gleicht einem Hightech-Cockpit, von dem aus er die Phalanx der rot und blau beleuchteten 40 Lautsprecherboxen steuert, die über die gesamte Bühne des Festspielhauses verteilt sind. Samples von Orgeln aus aller Welt, die in unterschiedlichen historischen Stimmungen justiert und innerhalb dieser wieder in sämtlichen Halbtonschritten abgerufen werden können, eröffnen ein unerschöpfliches Reservoir an gesampelten Klängen.

Im Jahr von Johann Sebastian Bachs 333. Geburtstag zelebriert Carpenter mit den Goldberg-Variationen des Thomaskantors ein Heiligtum der klassischen Klavierliteratur. Was Bach auf dem Cembalo spielte, interpretiert Carpenter in unnachahmlicher Manier. Seine Bach-Exegese legt die musikalische Tiefe des Thomaskantors nach allen Regeln der Registrierkunst aus. Bei jeder der 30 Variationen wechselt er die Registrierung, bisweilen auch innerhalb eines Abschnitts. Mal rockt er Bach mit Synthesizerklängen, um an anderer Stelle Glöckchen einzusetzen. Die französische Ouvertüre wiederum erstrahlt im festlichen Klang einer Kathedralen-Orgel, die Aria am Ende lässt er sphärisch ausklingen.

„Für mich ist Bachs Musik ein ganz wichtiger Teil meines Lebens“ bemerkt der Atheist, der nie eine Grundschule besuchte und stattdessen zuhause unterrichtet wurde. Religion bezeichnet er als einen der wichtigsten Hinderungsgründe für die Weiterentwicklung des Menschen. Als erster Organist überhaupt wurde Carpenter vor zehn Jahren für sein Album „Revolutionary“ mit einem Grammy nominiert.

Cameron Carpenter: Rezital im Festpielhaus

Nach der Pause steht mit der zweiten Sinfonie von Howard Hanson eine „Symphonische Erzählung“ auf dem Programm: Cameron Carpenter hat sie eigens für sein Instrument transkribiert. Und das funktioniert ganz nach einer seiner wichtigsten Maximen: „Wir haben zu lange die Gewalttätigkeit der Orgel ignoriert, die Sinnlichkeit, dieses alles verschlingenden Feuers.“

Wie ein ganzes Orchester reizt der Orgel-Titan die Farbenvielfalt aus: von feinsten Klängen bis zur äußersten Klanggewalt. Hanson schrieb die Symphonie 1930: Sie trägt den Beinamen „Romantische“ und ist ein schwelgendes Werk, ausgelassen, emotional und tonmalerisch. Mit ihren Klangfarben und ihrem ausladenden Gestus ist die 1930 entstandene Sinfonie geradezu prädestiniert für die Orgel. Das Seitenthema des Kopfsatzes begleitet den Science-Fiction-Film „Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt.“

Cameron Carpenter: Genie an der Orgel

Carpenter ist hier ganz in seinem Element. Teils hebt er fast ab, wenn er die aberwitzigsten Oktav-Kaskaden mit den Füßen spielt und gleichzeitig mit atemberaubend fließenden Handbewegungen die Klangfülle der Touring-Orgel mit ihren unzähligen Registern ausschöpft. Kaum glaublich, dass all das mit nur zwei Händen und Füßen möglich ist.

Als Zugabe zieht der durchtrainierte Orgel-Revoluzzer für das Finale der ersten Orgel-Sinfonie von Louis Vierne einmal mehr förmlich alle Register – und setzt Maßstäbe: Sein Spiel stellt jede traditionelle Interpretation in den Schatten. Andächtig und achtungsvoll verneigt sich der Smarte Überflieger vor dem begeisterten Publikum, das ihn lange mit stehenden Ovationen feiert.

Fotos: Manolo Press, M.Bode