Zum Auftritt im Mannheimer Rosengarten spielt Ray Chen sich gleichsam selbst sein Geburtstags-Ständchen. Am 06.03.1989 in Taiwan geboren zählt der Geiger heute zu den besten seiner Zunft. Mit acht durfte er bei der Eröffnung der olympischen Winterspiele in Nagano 1998 auftreten, sein Durchbruch war der Gewinn des „Yehudi Menuhin International Competition for Young Violinists“. Chen spielte damals Mendelssohns Violinkonzert e-Moll – genau wie 26 Jahre später in Mannheim. Das romantische Schmachtwerk zählt zu den schönsten Violinkonzerten überhaupt – auch und gerade in der Darbietung von Chen, der den Parforceritt zwischen feuriger Virtuosität und einbremsender Formstrenge perfekt beherrscht.

Chen_(Julian_Hargreaves)Mühelos meistert er höchste Lagen. Rund und ausgewogen strahlt sein Spiel heitere Anmut und poetische Gefühlstiefe aus. Gefühlstriefende Schwermut ist die Sache des Bewunderers des Jahrhundertgeigers David Oistrach nicht. Christoph Eschenbach und sein London Philharmonic Orchestra bleiben stets Begleiter, ohne sich je in den Vordergrund zu spielen. Wie Chen hat sich der 75 Jahre alte Dirigent dem großen, romantischen Klang verschrieben. Behutsam passt er sich dem Solisten an, denn es ist Chen, der mit seinen teils überdehnten Ritardandi und Rubati die Tempi kunstvoll bestimmt.

Zwei Zugaben lässt sich der australisch-taiwanische Violinist entlocken, der sich am liebsten bei Kreuzfahrten in der Karibik entspannt. Brillant spielt er die in sehr gut verständlichem Deutsch angekündigte Caprice 21 von Paganini. Fast überirdisch schön interpretiert er mit seiner Macmillan-Stradivari von 1721 das E-Dur-Präludium von Johann Sebastian Bach. Stehende Ovationen, hier und da verstohlene Tränen. Wer das Konzert im Mannheimer Rosengarten verpasst hat: 2012 hat Ray Chen neben Mendelssohn das Violinkonzert von Tschaikowsky bei Sony Classical eingespielt.

Chen, Sony 2Nach der Pause mischt sich der Geigenstar unters Publikum, um der 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven zu lauschen. Jetzt ist es Christoph Eschenbach, erst im Januar mit dem renommierten Ernst-von-Siemens-Musikpreis ausgezeichnet, der im Mittelpunkt steht. Sein außergewöhnlicher Lebenslauf gibt Aufschluss über sein tiefes Musikempfinden. Seine Mutter stirbt 1940 bei seiner Geburt, nicht lange darauf fällt sein Vater in einem Strafbataillon. Der junge Christoph wächst bei seiner Großmutter auf, doch die stirbt 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee. Schließlich kümmert sich eine Cousine seiner Mutter um ihn. Selbst Pianistin, fragt sie ihn, ob er Klavier spielen will. Schwer traumatisiert hat Eschenbach mehrere Monate nicht gesprochen. Und jetzt sagt er: „Ja“. Es ist seine Rückkehr ins Leben. Wallydore Eschenbach bringt ihm von 1948 bis 1959 das Klavierspiel bei. Schon als Zehnjähriger gewinnt er beim Steinway-Wettbewerb für junge Pianisten den ersten Preis.

Eschenbach_(Margot_Ingoldsby_Schulman)65 Jahr später zeigt er sich in Mannheim auf der Höhe seines Schaffens. Dabei kann er sich jederzeit auf den vorzüglichen Klangkörper des London Philharmonic Orchestra verlassen. Unverkrampft, lustvoll und beseelt spielen die Briten auf. Dramatische Dialoge und immer neu auftrumpfende Steigerungsgänge – Christoph Eschenbach setzt die „Schicksals“-Sinfonie glänzend in Szene. „Das ist sehr groß, ganz toll, man möchte fürchten das ganze Haus fiele ein“, soll Johann Wolfgang von Goethe 1830 über Beethovens Fünfte gesagt haben. Eschenbach und seine Londoner Philharmoniker kommen dem sehr nah.

Fotos: Margot Ingoldsby Schulman, Julian Hargreaves