Ursprünglich hätte Maria João Pires mit dem ersten Klavierkonzert von Frédéric Chopin im Baden-Badener Festspielhaus debütieren sollen. Wenige Tage vor ihrem Auftritt entschied sie sich dann für Ludwig van Beethovens Drittes. Es ist das einzige der fünf Klavierkonzerte Beethovens, das in einer Moll-Tonart komponiert wurde. Und es ist das erste, in dem er zu einem eigenen Stil findet und mit seinen deutlich symphonischen Merkmalen endgültig das Vorbild Mozarts hinter sich lässt.

Die Pianistin Maria Joao Pires und das London Symphony Orchestra (ML Daniel Harding) während eines Konzertes Im Festspielhaus Baden-Baden am 13.12.2015

Warum die Ausnahmepianistin Beethoven den Vorzug gab, ist nicht bekannt. Doch war es just Beethoven, der ihr 1970 in Brüssel die Türen der wichtigen Konzertsäle dieser Welt öffnete, als sie den Wettbewerb zum 200. Geburtstag des Komponisten für sich entschied. Mittlerweile steht die 71-jährige seit mehr als 60 Jahren im von ihr gar nicht so sehr geliebten Rampenlicht. Ende der 1940er Jahre betrat sie als Fünfjährige erstmals eine Bühne. Ihr Vater starb zwei Wochen vor ihrer Geburt, der Großvater war Buddhist. Fasziniert hörte die kleine Maria der älteren Schwester beim Klavierspiel zu. „Es war eine Tonwelt, nicht unbedingt sofort Musik. Ich habe Farben gehört.“ Claudio Abbado verpflichtete sie 1987 als Solistin für die erste Tournee des neugegründeten Gustav Mahler Jugendorchesters, und er stand auch am Pult, als Pires 1990 ihren Einstand bei den Salzburger Osterfestspielen mit den Wiener Philharmonikern gab.

Die Pianistin Maria Joao Pires und das London Symphony Orchestra (ML Daniel Harding) während eines Konzertes Im Festspielhaus Baden-Baden am 13.12.2015

Die Messlatte für das Baden-Badener Klavierkonzert am vergangenen Sonntagabend lag sehr hoch: Als sie dieses Konzert 2014 erstmals mit Daniel Harding auf CD einspielte, entzückte sie die Kritiker. Und auch dieses Mal: Ohne Pomp und Pathos, poetisch-sensibel streichelt sie die Tasten. Es ist eine Liebeserklärung ans Klavier, die Musik gewordene Umsetzung ihres Credos: “Zuerst müssen wir hören, zuhören, was die Musik zu sagen hat, und uns selbst total vergessen. Es geht darum, mit dem Komponisten ein Gespräch zu führen.“ Voller Leben, voller Phantasie und Empfindsamkeit gestaltet sie die Klangräume, mit einer Anschlagskunst und Artikulation, die ihresgleichen sucht.

(c) Julian Hargreaves
(c) Julian Hargreaves

Daniel Harding ist der kongeniale Partner für das Spiel der Mutter von vier Töchtern und zwei Adoptivsöhnen. Der 40 Jahre alte Brite, der bereits mit 17 ein Orchester dirigierte, lässt das London Symphony Orchestra in einer subtil-zurückhaltenden Weise aufspielen, wie man es nur allzu selten hört. Er überlässt Pires den Vortritt, bleibt immer im Hintergrund – ohne wenn und aber. Wunderbar durchsichtig und homogen agieren Streicher und die Holzbläser. Harding will Niemandem etwas beweisen. Ebenso wenig Maria João Pires, deren Persönlichkeit weit hinter das Stück zurück tritt. Das ist die Basis für ein musikalisches Miteinander, das die Zuhörer in seinen Bann zieht.

Als Schüler am Musikgymnasium bat Harding Simon Rattle um einen Schulbesuch, wenig später machte ihn der Stardirigent zu seinem Assistenten. Seither hat er alle wichtigen Orchester der Welt dirigiert. Vor nun bald zehn Jahren scheiterte seine Ehe nach zwölf Jahren – an seiner Unfähigkeit, offen und ehrlich über Gefühle und unsere Beziehung zu sprechen, wie er der „Zeit“ anvertraute. Dass er ein überaus tiefgründiger Charakter ist, zeigt das Spiel des London Symphony Orchestra fast in jeder Sekunde dieses Abends, vor allem in voller Besetzung bei der Interpretation der vierten Sinfonie („Romantische“) von Anton Bruckner.

Die Pianistin Maria Joao Pires und das London Symphony Orchestra (ML Daniel Harding) während eines Konzertes Im Festspielhaus Baden-Baden am 13.12.2015

Doch zuvor noch spielt Maria João Pires als Zugabe Auch hier schwingt, wie schon zuvor bei Beethoven ein Hauch von Saudade mit, jenem eigentümlichen portugiesischen Nationalgefühl aus Sehnsucht, bittersüßer Melancholie und Schmerz. Lang anhaltender Applaus – der der bescheidenen, demütig wirkenden Pianistin eher peinlich ist. „Ein Komponist hat in sich die Kräfte und Möglichkeiten, die man nicht erklären kann“, sagt die zierliche Portugiesin mit den kleinen Händen. „Aber auch er hat sie von irgendwoher – von der ganzen Welt, vom Universum. Ich bin als Interpret nur ein Sender, der die Musik weitergibt.“

CD-Tipp: Complete Solo Recordings (Deutsche Grammophon)

Fotos: Andrea Kremper