Vergangenen Freitag zelebrierten die Wiener Philharmoniker „Eine Alpensinfonie“ von Richard Strauß – auf höchstem Niveau.

Im Sommer 1878 machte sich ein 14-Jähriger zu einer Bergtour von Murnau zum 1790 Meter hohen Heimgarten in den bayerischen Voralpen auf. Ein Gewitter zog auf, der Junge verirrte sich heillos und suchte zwölf Stunden lang bei Regen und Sturm den Weg nach Hause. Der Teenager fand dieses lebensgefährliche Abenteuer „bis zum höchsten Grad interessant und originell“ und setzte ihn Tags darauf am Klavier in Musik um – „natürlich riesige Tonmalerei und Schmarrn nach Wagner“. Es war die Geburtsstunde der „Alpensinfonie“ – und der musikalisch höchstbegabte junge Mann hieß Richard Strauss. Einige Jahre später, bei der Berliner Premiere im Jahr 1915 sagte der Komponist, der von sich behauptete, er könne eine Speisekarte instrumentieren: “Ich hab’ einmal komponieren wollen, wie die Kuh die Milch gibt.”

Am vergangenen Freitag interpretierten die Wiener Philharmoniker in Baden-Baden das monumentale Tongemälde, das der geniale Orchestertüftler so zurückhaltend beschrieben hatte. In der „Alpensinfonie“ geht es um mehr als eine Milchkuh. Seine letzte sinfonische Dichtung ist längst zu einem der ergreifendsten Naturgemälde der spätromantischen Musik geworden. Strauss’ Credo folgt Beethovens Maxime für die Programmmusik: “Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei.” Genau genommen war er ein Impressionist, der sich expressionistischer Techniken bediente. Dafür mobilisiert der 1864 geborene Sohn eines Hofmusikers die ganze Klanggewalt des modernen Sinfonieorchesters. 113 Musiker – ausgerüstet mit Windmaschine, Donnerblech, Heckelphon, Celesta und Orgel – benötigten fast die ganze Bühne des Baden-Badener Festspielsaals. Am Pult stand mit Andris Nelsons einer der jungen Überflieger der Klassik-Szene.

© Marco-Borggreve
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Mit 24 Jahren übernahm der studierte Trompeter als Chefdirigent die Lettische Nationaloper, mit 27 die Nordwestdeutsche Philharmonie Herford, zwei Jahre später das City of Birmingham Symphony Orchestra. Bei den Bayreuther Festspielen gab er 2010 mit Richard Wagners “Lohengrin” sein Debüt. Im Herbst wurde er wieder einmal als Nachfolger Simon Rattles bei den Berliner Philharmonikern gehandelt. Der heute 36 Jahre alte Nelsons, der Strauss neben Wagner, Brahms, und Schostakowitsch zu seinen Lieblingen zählt, präsentiert sich als Pultstar und gibt dem Publikum mit großen Gesten und ausladenden Bewegungen seine Show. „Ich muss mich in die Alpen versetzen, um die Alpensinfonie zu dirigieren. Das geht nicht nur mit Technik und Erfahrung. Ich muss mich immer wieder aufs Neue in diese Stimmung hineinarbeiten. Und dann kommen automatisch immer wieder neue Ideen dazu“, sagte Nelsons in einem Interview.

Das Orchester leise zu halten, an der richtigen Stelle durchsichtig zu sein und an der richtigen Stelle zuzuschlagen“, hält Stardirigent Christian Thielemann für die besonderen Herausforderungen bei Strauss. Nelsons zeigt sich dieser

© Marco Borggreve
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Aufgabe auf eine bewundernswerte Weise gewachsen. Wie er mit den Wienern Strauss‘ „Alpensinfonie“ auferstehen lässt, ist von außergewöhnlicher Plastizität und Transparenz. Dabei kann er sich jederzeit auf die stupende Musikalität des Traditionsorchesters verlassen. Zart, weich und durchhörbar an den leisen Stellen, gewaltig und bombastisch in der Darstellung von Sturm und  Gewitter: Die Wiener Philharmoniker beherrschen sämtliche Register mit fast traumwandlerischer Sicherheit.

So spannungsgeladen war der Beginn dieses Opus Magnum bisher nicht zu hören. Man spürt die Sonne förmlich aufgehen, langsam, intensiv, die Berglandschaft in ein wunderliches Licht einhüllend. Nelsons arbeitet die Dramaturgie penibel heraus. Man ist gefangen in seiner Musik, umhüllt vom ihr, vergisst das Außen. Faszinierend, dass das Mammutorchester auch an den ausdrucksvollsten Stellen an keiner Stelle grell oder penetrant wirkt. Dazu tragen sicherlich auch die großartigen Bläsergruppen und jener eigentümliche Wiener Klangstil bei, der vor allem mit der anderen Bauweise der Instrumente zu tun hat.

© Marco Borggreve
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Das Wiener Horn etwa besitzt dank seiner engen Mensur mehr Teiltöne und klingt heller als ein klassisches Doppelhorn. Das erfordert aber mehr Konzentration und eine genauere Feinmotorik beim Spiel in hohen Lagen. Genau das beherrschen die Hornisten der Wiener Philharmoniker nahezu perfekt. Es ist eine Wonne, ihnen zuzuhören. Ebenso hinreißend die Soli – vor allem Oboe, Englischhorn und Horn. Die Wiener Philharmoniker gehören zweifellos zu den besten Klangkörpern der Welt. Die „Alpensinfonie“ in der Interpretation von Nelsons steckt voller Emotionen, hyperromantischen Klangfluten und intuitiver Dichte. Sie ist ein Spiegel von Strauss’ übersensiblem und explosivem Temperament, das er in eine zwingend logische Klangphantasie umsetzt.

„Strauss ist einer jener Komponisten, die den Hörer zu Tränen rühren können“, brachte es Maestro Andris Nelsons in einem Gespräch auf den Punkt. Wie recht er doch hat! Der musikalische Bergwandertag – vom gleißenden Sonnenaufgang über die friedliche Kuhglocken-Alm bis zum gewitterumtosten Abstieg unter seiner Regie berührt buchstäblich die Seele.